Futures Literacy lab

Die Zukunft war schon immer ein faszinierendes, aber auch beunruhigendes Thema.
Ob Klimakrise, künstliche Intelligenz, politische Umbrüche oder gesellschaftlicher Wandel, wir leben in einer Zeit, in der sich Gewissheiten auflösen und neue Möglichkeiten rasant auftun. Viele Menschen empfinden diesen Zustand als Überforderung: Prognosen widersprechen sich, Krisen überlagern einander, und „Planbarkeit“ scheint ein Relikt vergangener Zeiten zu sein.

Doch gerade in dieser Unsicherheit liegt eine Chance. Denn Zukunft ist nichts, das einfach „passiert“, sie ist etwas, das wir mitgestalten können. Und genau hier setzt das Konzept der Futures Literacy an: der Fähigkeit, die Zukunft nicht als etwas Feststehendes zu sehen, sondern als Werkzeug, um die Gegenwart besser zu verstehen und bewusster zu handeln.

Der Gedanke klingt zunächst abstrakt, ist aber tief pragmatisch.
Wie wir uns die Zukunft vorstellen, beeinflusst, welche Entscheidungen wir heute treffen:
Ob eine Stadt neue Mobilitätskonzepte entwickelt, ein Unternehmen in Nachhaltigkeit investiert oder eine Schule ihr Lernen neu denkt, immer liegen bestimmte Zukunftsbilder zugrunde. Diese Bilder bestimmen, was wir für möglich halten, welche Risiken wir sehen und welche Wege wir einschlagen.

Doch was wäre, wenn wir lernen könnten, diese Bilder zu erkennen, zu hinterfragen und neu zu gestalten?
Genau das ist das Ziel der Futures Literacy – einer von der UNESCO entwickelten Kompetenz, die Menschen befähigt, bewusster mit ihren Zukunftsvorstellungen umzugehen.

Was ist "Futures Literacy"?

Futures Literacy beschreibt die Fähigkeit, die Zukunft bewusst als Werkzeug zu nutzen, um besser mit der Komplexität und Unsicherheit unserer Welt umzugehen. Es geht nicht darum, die Zukunft vorherzusagen, sondern darum, zu verstehen, warum und wie wir über Zukunft nachdenken, und wie diese Vorstellungen unsere Gegenwart prägen.

Futures Literacy befähigt Individuen und Gemeinschaften, ihre eigenen Zukunftsbilder zu reflektieren, neue Perspektiven zu entwickeln und daraus innovative Handlungen für die Gegenwart abzuleiten.

Einige Kernideen:

  • Zukunftsbilder formen Wahrnehmung: Unsere Annahmen und Vorstellungen über die Zukunft beeinflussen, worauf wir heute achten, wie wir Risiken einschätzen und welche Handlungsmöglichkeiten wir sehen.
  • Mehr als Prognose: Es geht nicht darum, „die eine richtige Zukunft“ vorherzusagen, sondern darum, unsere impliziten Denkmuster sichtbar zu machen und spielerisch alternative Zukünfte zu explorieren.
  • Reflexivität: Wir lernen, darüber nachzudenken, wie und warum wir überhaupt bestimmte Zukunftsszenarien entwerfen und wie diese Entwürfe Macht/Präferenzen widerspiegeln.
  • Kompetenz für Wandel: In Zeiten von Unsicherheit, Komplexität und Nichtlinearität (Klimakrise, digitale Disruption, Pandemie, soziale Dynamiken) ist Futures Literacy ein Mittel, um nicht nur passiv auf Wandel zu reagieren, sondern ihn mitzugestalten.

 

Dabei ist Futures Literacy nicht nur eine intellektuelle Theorie, sondern, ähnlich wie Lesen und Schreiben, eine Kompetenz, die Menschen erlernen und kultivieren können.

Das Futures Literacy Lab (FLL)

Um Futures Literacy konkret zu üben und in der Praxis anzuwenden, hat die UNESCO das Futures Literacy Lab (FLL) entwickelt. Es handelt sich um ein strukturierteres, partizipatives Lernformat, das nach dem Prinzip des Learning by Doing aufgebaut ist.

Ziel eines Labs ist es, durch gemeinsames Experimentieren und Reflektieren zu erkennen, wie Zukunftsbilder entstehen und wie sie bewusst verändert werden können, um neue Handlungsoptionen in der Gegenwart zu eröffnen.

Futures Literacy Labs kommen in ganz unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz: in Städten, Unternehmen, Bildungsinstitutionen oder zivilgesellschaftlichen Gruppen. Sie bieten einen Raum, um gemeinsam neue Zukunftsvorstellungen zu entwickeln und daraus kreative, inklusive und nachhaltige Strategien abzuleiten.

Der Ablauf eines Futures Literacy Labs: Vier Phasen

Ein Futures Literacy Lab folgt typischerweise vier aufeinander aufbauenden Phasen:

  1. Reveal (Offenlegung)
    Die Teilnehmenden erkennen, dass ihre Wahrnehmung der Gegenwart stark durch ihre eigenen Zukunftsbilder geprägt ist. Es wird sichtbar, welche impliziten Annahmen und Erwartungen sie über „die Zukunft“ in sich tragen.
    Beispiel: Eine Gruppe diskutiert, welche unbewussten Annahmen sie über „Arbeiten in 20 Jahren“ hat. 
  2. Reframe (Umrahmung)
    Durch gezielte Provokation, Perspektivwechsel und kreative Methoden werden neue, ungewohnte Bilder der Zukunft entworfen. Das Ziel ist es, eingefahrene Denkmuster aufzubrechen und alternative Möglichkeiten sichtbar zu machen, z. durch Rollenspiele, Szenarien, Visualisierung oder kreative Techniken.
    Beispiel: Statt „Roboter übernehmen unsere Jobs“ wird das Szenario „Roboter sind unsere Lernpartner“ betrachtet.

     

  3. New Questions (Neue Fragen entwickeln)
    Auf Basis der neuen Zukunftsbilder werden Fragen über die Gegenwart neu formuliert. Die Teilnehmenden reflektieren: Was verändert sich, wenn wir andere Zukünfte annehmen? Welche neuen Chancen oder Risiken treten in den Vordergrund?
    Beispiel: Wie sähe Bildung aus, wenn Lernen mit KI selbstverständlich wäre?

     

  4. Next Steps (Nächste Schritte)
    Schließlich werden die Erkenntnisse und neu gewonnenen Perspektiven auf aktuelle Herausforderungen angewendet, wie zum Beispiel auf politische, soziale oder wirtschaftliche Entscheidungen. Hier zeigt sich, wie „Zukunftsdenken“ konkret Handlungsimpulse für heute geben kann.
    Beispiel: Entwicklung neuer Unterrichtsformate, die KI als Kreativwerkzeug nutzen.

 

Für weitere Anregungen, um ein Futures Literacy Lab in eurer Gruppe durchzuführen, gibt es dieses Playbook oder diese Toolbox.

Warum Futures Literacy wichtig ist

  1. Überwindung von Vorstellungsarmut
    Häufig fehlt uns die Vorstellungskraft, sich anders zu organisieren, wir hängen in bestehenden Denkmustern fest („so haben wir’s immer gemacht“). Futures Literacy zielt darauf, die Armut der Vorstellungskraft zu überwinden, indem es kollektiv neue Narrative und Möglichkeitsräume öffnet.

  2. Politische und gesellschaftliche Relevanz
    In globalen Krisenzeiten (Klimawandel, Pandemien, soziale Ungleichheit) ist es entscheidend, dass Zukünfte nicht nur von Expert:innen entworfen werden, sondern dass Gemeinschaften und Menschen ein Mitspracherecht haben. Futures Literacy kann demokratisieren, wer „Zukunft“ gestaltet.

  3. Strategische Flexibilität und Resilienz
    Organisationen und Institutionen, die in der Lage sind, mit vielen möglichen Zukünften zu arbeiten statt mit nur einem Plan, sind robuster gegenüber Überraschungen und unausweichlichen Veränderungen. Futures Literacy stärkt diese Fähigkeit zur Flexibilität.

  4. Verbindung von Imagination und Handlung
    Viele Zukunftsprojekte bleiben abstrakt. Futures Literacy Labs versuchen, Brücken zwischen Vision und Umsetzung zu schlagen: Wie kann das zukunftsfähige Bild heute das Handeln verändern?

  5. Kulturelle und ethische Reflexion
    Zukunftsbilder sind nie neutral: Sie spiegeln Werte, Machtverhältnisse, Geschichte und Vorurteile. Futures Literacy ermöglicht ein bewussteres Hinterfragen solcher Einflüsse, beispielsweise wer welche Zukunft definiert, wer beteiligt ist und wer ausgeschlossen bleibt.

Herausforderungen und Grenzen

Natürlich ist Futures Literacy kein Allheilmittel, wie jedes Werkzeug hat es Grenzen und Herausforderungen:

  • Zeit, Ressourcen und Geduld: Gute Labs brauchen Vorbereitung, Moderation, Nachbereitung und Moderationskompetenz.
  • Motivation und Offenheit: Wenn Teilnehmer:innen nicht bereit sind, ihre Annahmen zu hinterfragen, kann der Prozess oberflächlich bleiben.
  • Institutionelle Verankerung: Erkenntnisse aus Labs müssen in bestehende Strukturen integriert werden, damit sie Wirkung entfalten.
  • Messbarkeit von Wirkung: Es ist oft schwierig, kurzfristige, greifbare Erfolge zu quantifizieren, viele Wirkungen sind qualitativ und langfristig.
  • Dominanz etablierter Narrative: In Gesellschaften mit stark vorherrschenden Narrativen (z. B. Wachstumszwang, technischer Determinismus) kann es schwer sein, alternative Zukunftsbilder zu etablieren.

Fazit

Futures Literacy ist weit mehr als ein intellektuelles Konzept. Es lädt uns ein, bewusst mit Zukunft umzugehen, unsere Annahmen zu reflektieren und neue Handlungsräume zu eröffnen. Futures Literacy Labs bieten ein erprobtes Format, um Zukunft gemeinsam zu erkunden, neu zu rahmen und in heutiges Handeln zu übersetzen. In einer Zeit hoher Unsicherheit kann diese Kompetenz entscheidend sein, denn wer lernt, Zukunft nicht als Bedrohung, sondern als Werkzeug zu nutzen, handelt klüger im Heute.

Futures Literacy lässt sich häufig gut mit anderen Zukunftsmethoden verbinden, wie das Futures Wheel. Wenn du mehr dazu erfahren willst schau doch mal bei unserem Blogbeitrag 5 Zukunftsmethoden, die du kennen solltest auf der Webseite von KF Education vorbei!

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Beitragsbild: Illustration erstellt mit Unterstützung von KI (ChatGPT, OpenAI)

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