
Echt statt perfekt: Warum Authentizität in Lernräumen wichtig ist
Du betrittst einen Raum voller erwartungsvoller Gesichter. Deine Rolle: Lerngestalter:in. Inspirieren, leiten, begleiten – und dabei du selbst bleiben. Aber was heißt das konkret: authentisch sein?
Vor Kurzem war ich an der Hamburg Open Online University (kurz: HOOU) eingeladen, um einen Workshop zum Didactical Thinking zu geben. Zwei Tage lang ging es um Werte, Haltungen und Gestaltung von Lernprozessen. Bei einer Übung fragte ich: „Welche Werte sind euch in Lernsettings wichtig?“ Und fast die Hälfte nannte: Authentizität. Grund genug, diesem Begriff einen eigenen Blogbeitrag zu widmen.
Was heißt eigentlich "authentisch sein"?
Kernis und Goldman (2006) definieren Authentizität als das „ungehinderte Wirken des wahren oder inneren Selbst im täglichen Handeln“. Klingt abstrakt? Ihr „Authenticity Inventory“ macht es greifbarer. Demnach umfasst Authentizität vier Komponenten:
- Selbstkenntnis: die eigenen Motive, Gefühle und Werte kennen
- Unverzerrte Verarbeitung: sich selbst ehrlich wahrnehmen
- Authentischer Selbstausdruck: im Einklang mit dem eigenen Inneren handeln
- Beziehungsorientierung: offen und ehrlich mit anderen sein
Diese Aspekte zeigen: Authentisch sein bedeutet nicht, immer alles richtig zu machen. Im Gegenteil: Es heißt, mit Fehlern, Zweifeln und Unsicherheiten sichtbar zu sein und dadurch glaubwürdig.
Gleichzeitig bedeutet Authentizität nicht, alles, was wir innerlich empfinden oder denken, ungefiltert nach außen zu tragen. Vielmehr geht es darum, stimmig zu handeln, im Einklang mit den eigenen Werten und in einer zur Situation passenden Weise. Echtheit braucht Reflexion, nicht bloße Spontaneität.
Was Authentizität bewirken kann
Warum ist das so kraftvoll? Studien zeigen: Authentizität fördert das psychische Wohlbefinden. Wood et al. (2008) fanden heraus, dass authentische Menschen glücklicher, selbstsicherer und weniger depressiv sind. Auch im Arbeitskontext wirkt Authentizität wie ein Vertrauensgenerator. Walumbwa et al. (2008) zeigten: Authentische Führung steigert Vertrauen, Engagement und Leistung.
Und im Lernraum? Authentizität vertieft Beziehungen, erhöht Motivation und ermöglicht ein tieferes Verständnis. Kreber et al. (2007) betonen, dass authentisch lehrende Personen glaubwürdig und inspirierend wirken, was Lernende aktiviert. Herrington & Oliver (2000) zeigen auch: Authentische Lernumgebungen, die an reale Kontexte anknüpfen, fördern Transfer, Problemlösekompetenz und Motivation.
Wie Authentizität im Lernalltag aussehen kann
Wie zeigt sich das im Lernalltag? Einige Beispiele:
- Mit Werten arbeiten: z. B. im Einstieg eines Kurses über die Frage: „Was ist mir wichtig, wenn ich lerne oder lehre?“ (hier eine Liste mit Werten)
- Fehler offen ansprechen: „Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Ansatz hier passt, aber ich bin neugierig, wie ihr ihn erlebt.“
- Raum für Selbstexploration schaffen: z. B. durch Reflexionsfragen oder Wahlmöglichkeiten im Lernprozess
- Individuelles Feedback geben: nicht standardisiert, sondern menschlich und zugewandt
- Sich selbst nicht zu ernst nehmen: Humor ist oft die ehrlichste Form der Verbindung, gerade wenn mal etwas schiefgeht
- Ehrliche Pausen zulassen: auch ein „Ich brauch kurz einen Moment“ kann authentisch und verbindend wirken
- Gedankenanstoß für dich: Gibt es eine kleine Eigenart oder Methode, die dich in deiner Rolle als Lernbegleiter:in besonders macht?
Was würdest du in dieser Liste ergänzen, wenn du diesen Text mitgeschrieben hättest? Schreib es mir gern.
Letzte Woche habe ich übrigens in einem Workshop offen gesagt: „Ich probiere diese Methode heute das erste Mal aus.“ Was passierte? Die Gruppe wurde wach, fragte nach, wollte mitdenken. Wir entdeckten gemeinsam viel mehr, als wenn ich ein fertiges Konzept vorgesetzt hätte.
Authentizität als Haltung in kreativen Lernräumen
Authentizität bedeutet auch: Ich muss keine Rolle spielen. Dadurch bin ich nicht nur mehr bei mir, sondern auch präsenter für andere. In kreativen Lernprozessen ist das essenziell. Denn wer sich zeigen darf, wie er oder sie ist, kann Ideen ungefiltert teilen, mutig ausprobieren und gemeinsam lernen.
Beim kreativen Denken geht es genau darum: Neugier, Experimentieren, Umdenken und Entwickeln durchlaufen wir leichter, wenn wir uns nicht verstellen müssen. Authentizität schafft hier die Grundlage für einen offenen Denkraum, in dem Ideen nicht sofort bewertet, sondern erst einmal zugelassen werden dürfen. Wer authentisch ist, muss nichts vorspielen, sondern darf auch unfertige Gedanken teilen, Fragen stellen, ohne gleich eine Antwort parat zu haben, und laut denken. Genau das ist oft der Anfang für wirklich neue Impulse.
Anregungen zum Mitnehmen
Reflexionsfrage: Wann warst du zuletzt einfach echt? Und was hat das mit dem Lernraum gemacht?
Praxisimpuls: Nimm dir vor dem nächsten Workshop 5 Minuten, um dich innerlich auszurichten: Nicht auf Perfektion, sondern auf Präsenz mit Unsicherheiten.
Wenn du möchtest, helfen wir dir gern, dazu einen Praxisimpuls oder ein Methodenblatt für dein Projekt zu entwickeln. Melde dich einfach unter Kontakt bei uns.
Denn: Lernen darf auch mal stolpern, schmunzeln und echt sein – Hauptsache, es bleibt lebendig und wirkt.

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Beitragsbild: Illustration erstellt mit Unterstützung von KI (ChatGPT, OpenAI)